Aus Liebe zur Natur

Theaterpremiere "Irgendwo" von Christine Ruis im Schlosspark Vornbach im Landkreis Passau

06.09.21 –

Es ist eine Frage der Zeit. Jede Gemeinde möchte sich entwickeln, in Bayern verschwindet jedes Jahr etwa die Fläche des Ammersees unter Straßen, Wohnhäusern und Gewerbegebieten, gut 13 Hektar am Tag. Es lässt sich ausrechnen, wie lange es dauert, bis kein Grün übrig ist. Welche Beziehung haben wir Menschen noch zur Natur, ist uns klar, dass sie kein Erholungssektor, sondern Lebensgrundlage ist? Um diese Fragen geht es im Theaterstück "Irgendwo … Frau Melperts vermisst die Welt" von Christine Ruis.

Die 1957 in Hessen geborene Schauspielerin, Regisseurin und Theaterpädagogin hatte 1995 mit dem Passauer Kollegen Gerhard Bruckner das Theater Eigenart gegründet, an diesem Wochenende war im Park des Schlosses Vornbach im Passauer Land Premiere ihres Soloprojekts "Irgendwo", bei dem Gerhard Bruckner Regie führte.

Ein bezaubernder kleiner Spaziergang führt die Premierengäste durch den Park auf eine Lichtung am Weiher, zwei Eichhörnchen spielen Fangen, ein Halbrund von alten Laubbäumen bildet die Bühne, es könnte idyllischer nicht sein. Mit Fahrrad und einem Anhänger voller Geräte dringt die Landvermesserin Anna Melperts hier ein, sie soll dieses Stück Land vermessen, die kapitalistisch sinnlose Wiese hat einer "Freizeitanlage" zu weichen. Geschäftsmäßig macht sich Frau Melperts ans Werk, es ist ihr letzter Auftrag, so wie "Irgendwo" vielleicht Christine Ruis letztes selbst geschriebenes Solostück ist. Doch je länger sie mit dem Riesenholzzirkel Meter vermisst, mit Absperrband rot-weiße Striemen in die Natur schneidet, je länger sie schwärmt von der Vermessungskunst der Ägypter, desto mehr wird klar: Hier stimmt was nicht.

Es ist die schreiende Diskrepanz zwischen berufsmäßiger Vermessung der Welt zum Zwecke ihrer Zubetonierung und Frau Melperts innerem Verhältnis zur Natur. Wie nebenbei entdeckt sie Kleinodien, hier ein Halm Deutsches Weidelgrad, da ein Rispengras. Bis ihr bewusst wird: "Schade um dieses schöne Fleckchen Erde". An die Stelle der vorlesungsartigen Exkurse über Kartographie treten Naturgedichte von Goethe, Mayröcker, Claudius, Ausländer, mahnende Bilder von Shaun Tan sowie Musik und Gesang. Bis die Vermesserin alles stehen und liegen lässt und Akkordeon spielend in der Natur verschwindet.

Christine Ruis offenbart in der knappen Stunde Theater sich selbst und ihr pädagogisches Vermächtnis. Sie füllt die immense Weite des Bühnenraums mit Persönlichkeit, Stimme und introvertiertem, leisem Spiel.

Vielleicht haben sich Ruis und Bruckner beim Entwickeln des Textes etwas zu sehr verliebt in die Details der Vermessung, so dass die Hauptfigur selbst und ihr existenzieller Konflikt vor lauter Technik fürs Publikum lange wenig spürbar wird. Etwas weniger Geschäftigkeit und ein Schuss mehr explizite Dringlichkeit in der Dramaturgie der ersten Hälfte könnten die Botschaft noch klarer und vitaler machen: Die Zerstörung muss ein Ende haben, und jeder Einzelne ist verantwortlich.

Raimund Meisenberger

Quelle: Passauer Neue Presse vom 06. September 2021
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